Über die Kontroverse zum Gendern der Selbstbezeichnung Sinti und Roma.
Zum Gendern der Selbstbezeichnung Sinti und Roma.
Einleitung:
In den letzten Jahren ist über das Gendern eine emotionale Debatte in der Gesellschaft entbrannt. Es wird darüber gestritten, ob und in welcher Form Sprache geschlechtergerecht bzw. neutral sein kann. Für die Befürworter*innen ist es ein Bekenntnis für mehr Gleichberechtigung und Inklusion, für Kritiker*innen stellt es eine Ver- bzw. Entfremdung ihrer Sprache und Identität dar.
Diese Debatte hat inzwischen auch die Communities der Sinti und Roma erreicht. Immer häufiger wird in Medien, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft deren Selbstbezeichnung gegendert und die Minderheit als „Sinti*zze“ und „Rom*nja“ bezeichnet.
Das Gendern der Selbstbezeichnung von Sinti und Roma mehrheitlich abgelehnt wird. Mehr noch, diese wird von vielen als neue Fremdbezeichnung empfunden, die nicht nur dem grammatikalischen Sprachgebrauch des Romanes widerspricht, sondern auch den identitätsstiftenden Charakter einer Gruppenbezeichnung verwässert.
Einige Bürgerrechtsaktivisten hinterfragen inzwischen kritisch, ob oder inwiefern es einer Dominanzgesellschaft zusteht, Betroffene zu entmündigen, indem sie defacto eine neue (Fremd) Bezeichnung in den allgemeinen Sprachgebrauch für die Sinti und Roma-Gemeinschaften einführt. Ein solcher Vorgang schränke das Selbstbestimmungsrecht dieser Gruppen ein und erzeuge unter vielen Sinti und Roma höchstes Unbehagen. Manche erkennen darin eine Bestätigung und Ausübung eines Macht- und Gewaltverhältnisses zwischen Mehrheit und Minderheit.
Motivation des Landesrat der Sinti und Roma NRW, sich zur allgemeinen Genderdebatte und zum Gendern der Selbstbezeichnung Sinti und Roma zu positionieren.
Mit den nachfolgenden Erklärungen möchte der Verband einen Beitrag zur allgemeinen Genderdiskussion leisten und sich gleichzeitig in der Debatte um das Gendern der Eigenbezeichnung innerhalb der Communities positionieren. Über die speziellen Fragestellungen hinweg soll deutlich werden, wie komplex sich die Thematik insbesondere für die Minderheit darstellt und welche Ängste damit verbunden sind.
Der Landesrat der Sinti und Roma NRW betrachtet die gegenwärtige Kontroverse als einen neuen Aushandlungsprozess, der allein von den Angehörigen der Minderheit auszumachen ist. Dabei sollte eine geordnete Debatte die zum Teil emotional geführte Diskussion ablösen.
Allgemeines Bekenntnis
Der Verband Landesrat der Sinti und Roma NRW bekennt sich grundsätzlich zu einer geschlechtergerechten bzw. -neutralen Sprache. Es scheint wichtig anzuerkennen, dass sich die Sprache vielfach ausgrenzend und diskriminierend auswirken kann, überwiegend für Frauen und non-binäre Menschen.
Der Verband wird daher in einen ersten Schritt künftig alle publizierten Texte auf Geschlechtergerechtigkeit bzw. -neutralität überprüfen und anpassen. Er wird in seinen Texten maskuline oder feminine Genera vermeiden und stattdessen bevorzugt generisch neutrale Formen verwenden. Für die eigenen Texte wird er einheitliche und nachvollziehbare Kriterien für Stylesheets entwickeln. Diese werden zu einem späteren Zeitpunkt auf der Themenseite des Verbandes veröffentlicht.
Es wird an dieser Stelle explizit darauf hingewiesen, dass immer, wenn im nachfolgenden von Sinti und Roma die Rede ist, alle inkludiert sind, d.h. Frauen, Männer und non-binäre Menschen.
Auch wenn sich der Verband von der gegenderten Form der Selbstbezeichnung Sinti*zze und Rom*nja im nachfolgenden Text distanziert, ist es ihm auch ein Anliegen die bisherigen Bemühungen von anderen Aktivist*innen und Selbstorganisationen ausdrücklich anzuerkennen. Seiner Ansicht nach geht es bei dieser Debatte nicht allein um einen veränderten Sprachgebrauch, sondern insbesondere darum die hinter der Sprache liegenden Diskriminierungs- und Ausgrenzungsstrukturen zu dekonstruieren und aufzubrechen. Diesem Ziel fühlen wir uns ebenfalls verpflichtet und verbindet uns mit anderen Aktivist*innen und Selbstorganisationen.
Zum Gendern der Selbstbezeichnung Sinti und Roma:
Im deutschen Sprachraum hat sich mit der Bürgerrechtsbewegung vor mehr als 40 Jahren der Terminus „Sinti und Roma“ durchgesetzt. Dieses Begriffspaar stellt im deutschen Sprachraum die bisher anerkannte Selbstbezeichnung der gesamten Gruppen dar. Sie funktioniert als eine Art Klammer, die die unterschiedlichen Gemeinschaften zusammenfasst, welche herkunftsgeschichtlich und sprachlich eine Verwandtschaft zueinander aufweisen. Analog hierzu wird die gegenderte Form „Sinti*zze und Rom*nja“ ebenfalls als zusammengehörendes Begriffspaar verwendet.
Positionen des Landesrat der Sinti und Roma NRW:
1.Die Bezeichnung Sinti*zze und Rom*nja wird als Selbstbezeichnung vom Landesrat der Sinti und Roma NRW e. V. nicht verwendet.
2.Es besteht grundsätzlich die Haltung, dass Eigenbezeichnungen immer Angelegenheit der betreffenden Gemeinschaften sind, im vorliegenden Fall also alleinige Sache der Sinti und Roma ist.
3.Der Einführung einer neuen Terminologie in den öffentlichen Diskurs hätte eines vorherigen Aushandlungsprozesses und der mehrheitlichen Zustimmung durch die Communities bedurft. Doch bisher hat weder ein ernsthafter Austausch stattgefunden, noch gab es glaubhafte Bemühungen einen mehrheitlichen Konsens in dieser Frage untereinander herzustellen.
4.Interne Umfragen innerhalb der Communities zeigen eine deutliche Ablehnung der gegenderten Selbstbezeichnung. Sie wird bei den meisten nicht als solche angenommen, sondern als neue Fremdbezeichnung empfunden.
5.Durch die gegenwärtige Praxis der Dominanzgesellschaft wird das Selbstbestimmungsrecht der Minderheit faktisch unterlaufen. Dies wird von vielen Sinti und Roma scharf kritisiert und als Ausdruck eines bestehenden Macht- bzw. Gewaltverhältnisses zwischen „Mehrheit“ und „Minderheit“ gewertet.
6.Es wird festgehalten, dass es sich bei der Konstruktion „Sinti*zze und Rom*nja“ um eine Wortschöpfung handelt, die im Romanes, der Sprache der Sinti und Roma, bisher nicht existiert hat oder gebräuchlich war.
7. Von vielen Muttersprachlern wird die Konstruktion „Sinti*zze“ grammatikalisch als widersinnig erachtet und daher abgelehnt.
8. Das Gendern von Begriffen setzt allgemein ein generisches Maskulinum voraus. Dieses liegt insbesondere bei der Selbstbezeichnung Sinti nicht vor. Sinti bezeichnet entgegen anders lautender Erklärungen bereits das Plural weiblicher, männlicher und non-binärer Sinti und ist daher generisch als neutral zu betrachten.
9. Zum Begriff Roma erfolgt in diesem Positionspapier keine grammatikalische Einordnung oder Wertung.
10. Für den Verband hat die Erklärung des ersten Welt-Roma-Kongress vom 8. April 1971 in London weiterhin bestand. Bei dieser internationalen Zusammenkunft einigten sich Delegierte von 14 nationalen Roma-Bürgerrechtsorganisationen darauf, Roma als internationale Selbstbezeichnung für Angehörige der Minderheit zu verwenden.
11. Sollte es im Zuge neuerlicher Aushandlungsprozesse unter den Roma-Communities zu einer anderen Selbstbezeichnung kommen, wird der Verband diese in seinen Sprachgebrauch integrieren.
12.Die Selbstbezeichnung stellt neben der Sprache und Kultur ein zentrales identitätsstiftendes Merkmal dar. Identität entsteht immer durch Identifikation und diese kann nicht von außen „verordnet“ werden.
13. Aus der Tatsache, dass ein kleiner Kreis feministischer und queerer Aktivist*innen die Selbstbezeichnung gendert, lässt sich für außenstehende Dritte keine generelle Legitimation für eine analoge Handhabe ableiten.
14. Es stellt aus Sicht des Verbandes jedoch kein Problem dar, wenn Angehörige der Minderheit entgegen der Mehrheitsmeinung die Selbstbezeichnung gendern. Es stellt einen Unterschied dar, ob Angehörige oder Nichtangehörige eine solche Praxis üben. Das Selbstbestimmungsrecht einzelner Community Mitglieder wird auf individueller Ebene respektiert und nicht angetastet.